Eine Buchempfehlung.
Ich habe die Autorin Dagmar Weidinger vor einigen Jahren kennengelernt, als sie mich zum Thema Wandern und Psyche interviewt hat. Seither lese ich gerne ihre Artikel zum Thema Psychotherapie, denn schon damals sind mir ihre interessanten Fragestellungen aufgefallen. Sie setzt sich oft mit der gesellschaftspolitischen Seite der Psychotherapie auseinander und beleuchtet auch kritische Themen, mit denen wir Psychotherapeut:innen uns auseinandersetzen sollten.
In ihrem Buch verfolgt sie ihren Stil weiter. Ihr Streifzug durch die weite Psychotherapie-Landschaft beginnt mit der Gefühlswelt und landet sogleich bei der immer noch leistungsorientierten Arbeitswelt, die unsere Beziehungen beeinflusst. Von dort spannt sich der Bogen über Schnittstellen von Psychotherapie und Glaube, Spiritualität, Feminismus sowie Politik, geht dann über zu klassischeren psychotherapeutischen Themen wie Psychose, Recovery, Paartherapie und Ahnenforschung, um am Ende wieder über Kampfkunst, Suchttherapie, Hass und Ökologie bei der Gesellschaft zu landen. Es gelingt der Autorin dabei, die aktuellen Themen der Zeit miteinander zu verknüpfen. Jedes Gespräch scheint am Vorherigen anzuknüpfen, selbst wenn dazwischen mehrere Jahre und eine Pandemie liegen. Die besprochenen Themen werden durch die persönlichen Geschichten der Interviewten greifbar anstatt nur auf theoretischer Ebene zu bleiben.
Das Buch hat mich sehr angesprochen, weil sich meine Gedanken in den Gesprächen wiederfinden. Es bestätigt meine Sichtweise, dass Psychotherapie so viel mehr ist als die Behandlung psychisch belasteter Menschen. In der Praxis spiegelt sich der Zustand der Gesellschaft wider. Wir erleben die Auswirkungen des familiären, sozialen, beruflichen und politischen Systems der Klient:innen – oft recht unmittelbar, wie die Pandemie zeigt. Die psychotherapeutische Behandlung ist daher immer wieder eine Gratwanderung, die Menschen zwischen Anpassung und Widerstand zu unterstützen, denn beides kann positive wie negative Auswirkungen haben. Das Buch macht Lust darauf, kritisches Denken wieder etwas mehr zuzulassen und politischer zu werden. Einige Themen habe ich für meine Intervisionsgruppe notiert und warten auf kollegialen Austausch. Viele Gespräche bieten durch die erwähnten Publikationen Ansätze zur Vertiefung – wie immer ist nach einem Buch vor fünf weiteren Büchern…
Dagmar Weidinger: Unterwegs im weiten Land. Gespräche über die Psyche. Picus Verlag, 2022.