In meiner Praxis begegnen mir immer wieder junge Menschen, die eine innere to-do-Liste für ein gelungenes Leben abgespeichert haben. Einen perfekten Job finden, einen perfekten Partner finden, eine Familie gründen, ein Haus bauen, psychisch stabil werden, den Haushalt perfekt in Schuss halten, abnehmen, eine neue Ausbildung machen usw. Egal welche Ziele es sind, sie haben alle etwas gemeinsam: 1. Perfektion ist das oberste Gebot. 2. Es gibt eine Deadline. Häufig ist es das Alter von 30 Jahren, in dem alle Ziele erreicht werden sollten. Ansonsten ist man nicht erwachsen, nicht liebenswert, nicht vollständig. Dabei ist es völlig unerheblich, welche Bildung die jungen Menschen genossen haben, dass sie bereits einen Abschluss und einen Job haben, dass sie ihren Haushalt schupfen und ein selbstständiges, unabhängiges Leben führen. Das ist ja selbstverständlich. Das Leben beginnt vermeintlich erst dann, wenn ein Hakerl unter die To-Do-Liste gesetzt werden kann.

Ich muss, ich soll, ich darf doch nicht.

Die inneren Antreiber sind ziemlich mächtig. Ich muss perfekt sein. Ich muss schnell sein. Ich muss liebenswert sein. Ich muss mich anpassen. Ich darf meine Bedürfnisse nicht über die der anderen stellen. Ich darf nicht erschöpft sein. Ich darf nicht faul sein. Das muss doch alles leicht von der Hand gehen. Oft werden uns von Kindheit an derartige Einstellungen und Erwartungen mitgegeben. Auch traditionelle Wertvorstellungen sind in unserer Gesellschaft offensichtlich noch immer tief verankert.

Es ist wichtig, sich diese Antreiber und Erwartungen bewusst zu machen, zu überlegen, woher sie kommen, welche Werte davon noch zu mir passen und von welchen ich mich gerne verabschieden würde. Sonst laufen wir Gefahr irgendwann das Gefühl zu haben, ein fremdes Leben zu leben und ständig die Bedürfnisse anderer zu erfüllen. Viele Menschen erzählen dann, dass sie sich selbst kaum mehr spüren, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche kaum mehr wahr- bzw. ernst nehmen, dass sie sich wie ein Roboter fühlen.

Der Weg ist das Ziel

Persönliche Ziele im Leben sind wichtig. Sie leiten uns den Weg, bringen uns voran, motivieren uns, und lassen uns auch schwierige Zeiten durchstehen. Doch sie sollten nicht so beschaffen sein, dass sie uns in unserer Spontaneität und Kreativität behindern. Das eigentliche Leben spielt sich im Hier und Jetzt ab.

Viele Glücksmomente, die wir erwarten, wenn wir unser Ziel erreichen, finden wir wahrscheinlich schon jetzt in unserem Alltag. Gerade jetzt können wir mit guten FreundInnen bei einem Glas Wein oder Limonade den Sonnenuntergang genießen. Genau jetzt können wir spontan einen Radausflug machen. Gerade jetzt können wir uns ein Bad einlassen.

Das Problem mit der Deadline

Am Ende des Tages zählt es nicht, dass ich meinen Besuch immer wieder vertröste, weil es sich ein Lurchbällchen in meinem Wohnzimmer gemütlich macht. Es zählt, dass ich tatsächlich mit meinem Besuch auf der Terrasse den Sonnenuntergang genossen habe. In meinem Job zählt es nicht, ob ich die Ausbildung in Mindestdauer mit Auszeichnung absolviert habe, sondern dass ich kompetent in meinem Job bin und mit meinen KollegInnen Kontakt knüpfen kann. Am Ende des Lebens zählt es nicht, ob ich mit 30 oder mit 40 das erste Kind bekommen habe. Es zählt nur, dass ich eine gute Beziehung zu ihm hatte.

Stellt sich noch die Frage, wann es genug Hakerl auf der To-do-Liste sind. Häufig ist es eine nie enden wollende Liste, es gibt doch immer noch genug zu erledigen. Wann gebe ich mir die Legitimation gut genug zu sein? Wann ist es Zeit für meine eigenen Bedürfnisse? Wann darf ich wiedermal spontan sein und die Vernunft beiseite stellen? Brauche ich das alles wirklich, um glücklich zu sein?

Viele Menschen wünschen sich am Ende ihres Lebens, dass sie sich häufiger erlaubt hätten glücklich zu sein. Deadline heißt übrigens wörtlich übersetzt: tote Linie.

Leben im Hier und Jetzt

Ich bin sicher, Sie haben bisher schon Einiges erreicht und können auf das Eine oder Andere stolz sein. Machen Sie sich erreichte Ziele, Kompetenzen und Stärken, immer wieder bewusst! Halten Sie inne und würdigen Sie zwischendurch, was Sie geschafft haben, anstatt schon zum nächsten Vorhaben zu hetzen.Wir können gar nicht anders als jeden Tag neue Erfahrungen und Kompetenzen für das Leben zu sammeln, das passiert ganz von alleine. Dabei seien auch die Genuss- und Entspannungsfähigkeit gut trainiert. Ansonsten könnte es sein, dass Sie gar nicht wissen, wie Sie das lang ersehnte Hakerl auf der To-Do-Liste genießen können 😉

 

* Weiterlesen:

„Das Leben ist keine To-Do-Liste: Endlich Zeit für das, was wirklich wichtig ist – mit der To-be-Liste.“ von Shirley Seul

* Selbsterfahrungswochenende

„Das Leben, eine to-do-Liste? Wo bleibt da die Lebendigkeit?“ – Termine und weitere Informationen dazu finden Sie hier

 

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