Die Beschleunigung des öffentlichen Lebens

Soziologinnen und Soziologen sagen, dass es der Welt noch nie so gut gegangen ist wie heute. Es gibt angeblich weniger Krieg und es müssen weniger Menschen hungern als in vergangenen Zeiten. Trotzdem nimmt das Gefühl von Bedrohung und Leid zu. Auch hatten wir noch nie so viel freie Zeit wie heute. Und trotzdem nimmt das Gefühl von Zeitdruck zu.

Vor kurzem bin ich auf einen Zeitungsausschnitt aus den 50er-Jahren gestoßen, in dem eine Leserin beklagt, dass sich die Menschen „nicht einmal mehr Zeit für das Schreiben von Liebesbriefen“ nehmen. Dabei bringe ich die 50er-Jahre gerne mit der romantisierten „guten alten Zeit“ in Verbindung. Offensichtlich haben die Menschen schon lange das Gefühl, keine Zeit mehr für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens zu haben. Aber wann hat die (gefühlte) Beschleunigung der Zeit begonnen?

Zeit als wertvolles Gut

Alles begann offensichtlich mit der industriellen Revolution. Hier wurde die Arbeit zu einem wertvollen Gut, die Arbeit wurde in vorgegebene Zeitfenster komprimiert, Maschinen ersetzten den Menschen und führten zur Beschleunigung des alltäglichen Lebens. Wichtige Menschen hatten nun wenig Zeit, denn sie wurden gebraucht. Vor der Industrialisierung galten Menschen mit wenig Zeit dagegen als arm, denn sie hatten zu viel Arbeit und zu wenig Zeit für Müßiggang.

Für die Vorstellung des zeitlichen Begriffs ein paar Meilensteine:

  • 1825 wurde die erste Eisenbahnstrecke erbaut.
  • 1913 machte sich Ford mit der Fließbandarbeit einen Namen.
  • In den 1930er-Jahren wurde der erste Computer entwickelt.
  • 1983 gab es das erste Handy.
  • 1989 wurde das Internet „geboren“.
  • In den 1990ern wurden das Reisen mit dem Flugzeug leistbar.
  • Ende der 90er-Jahre hielten Internet und Handy in durchschnittlich verdienenden Haushalten Einzug.

Das alles ist im Vergleich zur Menschheitsgeschichte noch nicht lange her. Mit dem technischen Fortschritt konnten Wege des alltäglichen Lebens schneller bewältigt werden und die Kommunikation wurde massiv beschleunigt.

Die digitale Revolution

Die digitale Revolution führte zu einer Vernetzung der ganzen Welt. Informationen werden nun in Echtzeit geliefert, Arbeit findet zunehmend ortsunabhängig statt, Informationen und Personen sind ständig verfügbar und erreichbar.

Die Beschleunigung des öffentlichen Lebens führt einerseits zu mehr Freiheit und mehr Möglichkeiten – wenn wir wollen, sind wir in wenigen Stunden in einem Urlaubsparadies. Andererseits stellen uns die gefühlt unendlichen Möglichkeiten aber auch ständig vor neue Entscheidungen. Wir müssen die Flut an Informationen ständig neu bewerten, uns für manche Möglichkeiten entscheiden und auf andere verzichten. Die vernetzte Welt führt uns ständig vor Augen, was wir erreichen könnten, wenn wir nur den Mut zur richtigen Entscheidung hätten.

Ich komme eigentlich nie zu spät, die anderen haben es bloß immer so eilig. (Marilyn Monroe)

 

Die Uhren der Welt…

lassen sich jedoch nicht so einfach beschleunigen.

  • Die mechanische Uhr schlägt seit  Jahrhunderten gleich und zählt nicht mehr als 24 Stunden am Tag. Egal wieviel wir in diesen Tag hineinpacken.
  • Die biologische Uhr hält sich nicht an das menschliche Bedürfnisse nach Kontrolle und Vorhersagbarkeit, den Jahreszeiten sind die Kalenderdaten herzlich egal.
  • Und dann ist da noch die innere Uhr, die in jedem Menschen anders tickt. Manche sind Frühaufsteher, andere Nachteulen. Manche haben ein hohes Tempo, andere ein langsameres.

Unter diesen Gesichtspunkten ist es verständlich, warum wir mit der zunehmenden Beschleunigung des Lebens immer stärker das Gefühl haben, fremdbestimmt zu werden, nicht mehr Herr oder Frau unserer eigenen Zeit zu sein.

Weiterlesen: Teil 2: Ideen zur Entschleunigung


 

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