Teil 2: Wie wir wieder unser eigenes Tempo finden und mehr Lebenszufriedenheit verspüren. 
Das Erleben von Zeit hängt damit zusammen, wie bedeutungsvoll wir Dinge erleben. Je mehr wir von einem Augenblick wahrnehmen und erleben, desto mehr Zeit fühlen wir. Dieses Phänomen bemerken wir häufig im Urlaub. Zu Beginn, wenn wir noch im Alltagsmodus einen Sightseeing-Punkt nach dem anderen abhaken, vergehen die Tage wie im Flug. Wenn wir aber langsam zur Ruhe kommen und die Augenblicke mit allen Sinnen wahrnehmen, haben wir manchmal das Gefühl, die Zeit würde stehenbleiben.
Indem wir unserer Zeit mehr Leben geben, geben wir unserem Leben mehr Zeit. (unbekannt)
Multitasking – eine Illusion
Es ist schon lange bekannt, dass es die Fähigkeit des Multitaskings nicht gibt. Stellen Sie sich das Gehirn wie den Arbeitsspeicher eines Computers vor. Dieser kann immer nur eine Aufgabe nach der anderen erledigen. Ungeduldige Menschen wie ich klicken gerne mehrmals hintereinander auf einen Button, wenn der Computer zu langsam reagiert – die Folge ist aber keine Beschleunigung, sondern ein völliger Stillstand: die Sanduhr erscheint am Bildschirm. Jetzt bleibt nur noch abwarten.
Genauso funktioniert unser Gehirn. Reize werden hintereinander verarbeitet. Viele Reize verführen zum ständigen Wechsel der Wahrnehmung und zu einer leichten Ablenkbarkeit. Das ständige Hin-und-Her-Switchen der Aufmerksamkeit braucht Zeit und führt zur mehr Fehlern. Die Merkfähigkeit nimmt ab. Alltägliche Aktivitäten wie Autofahren laufen automatisiert ab, daher sind schnelle Reaktionen möglich. Telefonieren oder Tratschen mit dem Beifahrer/ der Beifahrerin lenken jedoch ab und führen zur einer verzögerten Reaktion.
Die optimale Leistung erbringen wir in einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Aktivierung und Entspannung, im sogenannten Flow. Der Flow beschreibt ein völliges Aufgehen in einer Tätigkeit, bei dem wir die Zeit vergessen und uns quasi im Tun verlieren. Das ist aber nur ohne Ablenkung möglich.
Individuelle Gründe für Zeitdruck
Viele Menschen beschreiben ihr Smartphone als Fluch und Segen zugleich. Ein Phänomen der Zeit ist das Bedürfnis nach ständiger Informiertheit. Viele checken ständig die Nachrichten oder das Wetter. Der Nutzen davon ist fraglich. „Früher“, also in der Prä-Smartphone-Epoche, haben wir uns auf den Wetterbericht des Vorabends verlassen. Wie auch immer sich das Wetter dann entwickelt hat, wir sind zu unserer geplanten Wanderung aufgebrochen und haben etwas erlebt. Mal haben wir pitschnass umgedreht, mal sind wir bei strahlendem Sonnenschein am Berggipfel gelandet.
Heute lassen wir uns aufgrund der ständig aktuell abrufbaren Wetterlage gerne von einer Wanderung abhalten, obwohl sich die Wetterapp dann doch irrt. Oder wir machen uns zwar auf den Weg, können die Natur aber nicht mit allen Sinnen genießen, weil wir mit unseren Gedanken schon wieder bei irgendwelchen Nachrichten am Handy sind.
Das ständige Analysieren und Bewerten von Informationen braucht Zeit und bedarf ständig einer neuen Entscheidung. Am Ende fühlen wir uns fremdbestimmt und sind wir unzufrieden, nicht das gewünschte Erlebnis erfahren zu haben. Wir fühlen uns nach einem Wandertag immer noch gehetzt, weil wir die Ruhe der Natur gar nicht fühlen konnten.
Weitere Gründe für individuellen Zeitdruck sind
* das Bedürfnis nach Kontrolle und das Unvermögen, Aufgaben delegieren zu können,
* Misstrauen gegenüber anderen („Nur wenn ich es selbst mache, wird es richtig gemacht“),
* unangenehme Konsequenzen durch Nein-Sagen,
* Angst, den (eigenen) Ansprüchen nicht zu genügen,
* Perfektionismus
* mangelnde Prioritätensetzung oder
* die mangelnde Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen.
Entschleunigen – aber wie?
In keinem dieser Fälle, ob auf gesellschaftlicher oder persönlicher Ebene, würde mehr Zeit helfen. Entscheidend ist das Maß an Kontrolle, das wir über unsere Zeit haben.
Meine Lieblingsantwort auf die Frage, wie man wieder mehr Zeit gewinnt, liegt in folgender Geschichte :
Einige Schüler fragen ihren Zen-Meister, warum er so zufrieden und glücklich ist. Der Zen-Meister antwortet: “Wenn ich stehe, dann stehe ich, wenn ich gehe, dann gehe ich, wenn ich sitze, dann sitze ich, wenn ich esse, dann esse ich, wenn ich liebe, dann liebe ich …”
“Das tun wir auch, antworteten seine Schüler, aber was machst Du darüber hinaus?” fragten Sie erneut. Der Meister erwiderte: “Wenn ich stehe, dann stehe ich, wenn ich gehe, dann gehe ich, wenn ich … ”
Wieder sagten seine Schüler: “Aber das tun wir doch auch Meister!” Er aber sagte zu seinen Schülern: “Nein – wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon, wenn ihr steht, dann lauft ihr schon, wenn ihr lauft, dann seid ihr schon am Ziel.”
Es erfordert eine persönliche Entscheidung, wieviel Macht Sie den technischen Errungenschaften zuschreiben und womit Sie Ihre Lebenszeit füllen möchten. Diese Entscheidung können nur Sie selbst treffen! Dazu braucht es ein Verständnis davon, was Ihnen im Leben wichtig ist, welche Leistungsansprüche Sie antreiben, wo und warum es Ihnen schwer fällt, Grenzen zu setzen – kurz um, es braucht eine Auseinandersetzung mit sich selbst.
5 Tipps für mehr Zeiterleben
1. Gönnen Sie sich handyfreie oder zumindest Social Media – freie Zeiten. Wenn Sie etwas unternehmen, drehen Sie Ihr Handy bewusst ab oder auf lautlos und stecken Sie es in Ihre Tasche. Schauen Sie sich um und nehmen Sie wieder einmal Dinge wahr, die Sie schon lange nicht beachtet haben. Ebenso können zuhause handyfreie Zonen hilfreich sein, z.B. das Schlafzimmer oder der Esstisch. Lesen Sie am Abend lieber ein Buch oder reden Sie noch ein paar Worte mit Ihrem Partner/ Ihrer Partnerin. Ihre Paarbeziehung wird es Ihnen danken.
2. Nehmen Sie sich ausreichend Zeit für geplante Aktivitäten, hier zählt das Motto „weniger ist mehr“. So können Sie sich auf die Dinge einlassen und müssen in Gedanken nicht schon zum nächsten Termin hetzen.
3. Apropos Gedanken: Versuchen Sie während Ihrem Tun auch in Gedanken dabei zu bleiben und sich nur auf den aktuellen Moment zu konzentrieren. Machen Sie bewusst eines nach dem anderen und vermeiden Sie es, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Zum Beispiel kochen Sie ohne daneben zu telefonieren oder die Wäsche aufzuhängen, sondern genießen Sie das Kochen mit allen Sinnen.
4. Planen Sie in Ihrem Terminkalender auch Zeitfenster für Entspannung und Spontanität ein. In dieser Zeit können Sie spontan entscheiden, wonach Ihnen gerade ist. Idealerweise ist das ein Abend pro Woche, ein Tag des Wochenendes oder hin und wieder auch ein ganzes Wochenende.
5. Identifizieren Sie Ihre inneren Antreiber: Schauen Sie sich Ihren Terminkalender der nächsten zwei Wochen an und überlegen Sie, was Sie für sich und was Sie eher aus einem Pflichtgefühl heraus machen. Welche Motivation steckt dahinter?
Das Ganze ist die Summe seiner Teile.
Die (gestresste) Gesellschaft sind wir alle. Es liegt an jedem/ jeder Einzelnen von uns, für einen bewussten Umgang mit unserer Zeit, und damit für ein bewusstes Miteinander zu sorgen. Aber Achtung: Das Unangenehme der Eigenverantwortung ist, dass wir dann niemandem mehr die Schuld für unseren Stress geben können 🙂